»Zeitgenössische Kunst und die Geistes- und Sozialwissenschaften: Konfrontation, Dialog und Missverständnis«
Die documenta ist neben der Biennale Venedig die bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst des europäischen Kontinents. In ihrer 14. Ausgabe beschäftigt sich die documenta mit Fragen der Enteignung, der Schulden, der Migration und Mobilität. Das Centre Marc Bloch schließt sich diesem künstlerischen Ereignis an und richtet eine Reihe von Begegnungen aus, die sich dem Dialog zwischen KünstlerInnen und ExpertInnen der Geistes- und Sozialwissenschaften widmen.
Documenta als Resonanzmaschine
//Petra Beck
„Was bedeutet denn Resonanz?
Ich meine damit, dass einem Menschen die Welt als antwortend, atmend, tragend, wohlwollend
oder sogar gütig erscheint.“
Hartmut Rosa
Resonanzen mit der eigenen Arbeit
Der Titel des Workshops „Zeitgenössische Kunst und die Geistes- und Sozialwissenschaften: Konfrontation, Dialog und Missverständnis“ deutet bereits an, dass es hier um eine Antwortbeziehung – oder besser – Resonanzbeziehung geht. In Resonanz zu sein – im Luhmannschen Sinn als Verbindung und Austausch zwischen gleichartigen Systemzonen – bedeutet bei meinen ersten Schritten durch die Ausstellungsräume zunächst Resonanzen mit der eigenen Arbeit; also mit Alltagsgegenständen, Archiven, Müll, Dingräumen, Plastik als Material, dem Meer.
Das gelingt auf den ersten Blick, mit der Arbeit „Anonerousanus: Soft Disclosure“ von Danai Anesiadou, die für eine Ausstellung 2015 ihren gesamten Besitz in Plastikbeutel verpackte, alle Dinge vakuumversiegelte und als Installation ausstellte. Vier dieser Assemblagen sind im EMST zu sehen und verweisen die Besucher darauf, was die Beziehung zu den eigenen Sachen nicht ist: sachlich und oberflächlich. Ihre materielle Präsenz ist nicht nur Anlass zu praktischen Fragen des Gebrauchs, der Sorge und Entsorgung, sondern oft genug Ausgangspunkt einer innigen, sentimentalen Beziehung und Verbindung zur eigenen Geschichte. In den Sammlungsräumen des Selbst entfalten die versammelten Dinge eine emergente Erzählung. Bei ihrem Anblick setzen sich Assoziationsketten in Gang. Assemblagen sind geschwätzig.
Lois Weinberger erkundet mit „Debris Fields“ einen historischen Dingraum archäologisch. Er dokumentiert, archiviert und reflektiert die Dinge, die sich über Jahrhunderte im Raum unter den Dielen des elterlichen Bauernhofs in Tirol angesammelt haben und legt ein beeindruckendes Archiv der Alltagskultur frei, das durch die Zeiten hindurch vom ländlichen Leben berichtet. Weinberger arbeitet mit Überresten, zwischen Schatz und Müll, die geheimnisvoll bleiben oder werden. Im Katalogtext schreibt er: „Ich nehme die vermutlichen Beweggründe, die einem Objekt zugrunde liegen, auf / um abermals Arbeiten herzustellen, welche die ursprünglichen Intentionen freilegen und erweitern.“
Die Arbeit „The Disasters of War, Metics Akademia“ von Daniel García Andújar bearbeitet auf ganz eigene Art Material und Begriff Plastik und dekliniert ihn durch all seine Facetten: Plastik als Skulptur, Plastizität, Plastik und Körper, Plastik und Serialität, Plastik als Material aus Plastikschredder und 3D-Drucker.
Mehrere Arbeiten benutzen Müll als Ausgangsmaterial und zeigen so den komplexen ontologischen Status von sowohl Kunst als auch Müll auf. Was passiert, wenn Objekte fragwürdig werden, wenn sie in Zeitlichkeit treten und ihre Objektkategorie verändern? Wann ist Müll? Wann ist Kunst? Damit beschäftigen sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise die Arbeiten von Tomislav Gotovac „Cleaning of Public Spaces“ und Daniel Knorr: Βιβλίο Καλλιτέχνη“. Gotovacs Arbeit sind die Dokumentation und Relikte einer Performance vom 28. Mai 1981 bei der er Müll auf dem Platz der Brüderlichkeit und Einigkeit in Zagreb sammelt. Knorr türmt im Athener Konservatorium einen Berg aus Objekten, die er mit seinen Mitarbeitern auf Athens Straßen aufgelesen hat und lässt von Besuchern einige auswählen, die dann zwischen die Seiten eines Buches gepresst werden. Und so zu einer Erzählung anderer, stofflicher, Ding gewordener Art führen.
Einige Arbeiten beziehen sich auf das Meer, wie die (kryptische) Ausstellung „marco14 und CIAM4/ Schiffbruch mit Zuschauer“ von Rainer Oldendorf im Polytechnion, bei der unter anderem Blumenbergs Buchs selbst zum Ausstellungsobjekt wird, ebenso wie Laszlo Moholy-Nagys Film der Schifffahrt zwischen Athen und Marseille der Teilnehmer des Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM4). Moholy-Nagys Film können die Betrachter im Polytechnion nur liegend sehen und sind so gezwungen, das Gebäude selbst und seine Materialität wahrzunehmen. Das Gebäude, in dem der Kongress von 1933 mit einer gefeierten Ausstellung endete. Oldendorf stellt seiner Arbeit ein Blumenberg Zitat voran. Es geht um den „Blick auf das Ganze von Wirklichkeit, Welt, Leben und Geschichte. In den großen Metaphern und Gleichnissen schlägt sich nieder, wird abgewandelt und ausgebaut, was an imaginativer Orientierung gewonnen wurde. Eine der immer präsenten Prägungen ist die vom Leben als Seefahrt. Sie umspannt Ausfahrt und Heimkehr, Hafen und fremde Küste, Ankergrund und Navigation, Sturm und Windstille, Seenot und Schiffbruch, nacktes Überleben und bloßes Zuschauen.“
Eine der Arbeiten der Documenta in Athen bezieht sich direkt auf Plastik im Meer: „Plastikus Progressus: Memento Mori“ von Bonita Ely in der Hochschule der Bildenden Künste. Hier saugen Staubsauger auf einem Plastikmüllstrudel und werden zu eigenständigen Kreaturen. Eine Herangehensweise, die schon so viele Künstler vor Bonita Ely anwandten, dass „Plastikus Progressus“ durch seine uneigenständige Wiederholung und unterkomplexe Herangehensweise auf der Documenta wie ein seltsam fehlplatziertes Schülerprojekt erscheint. (Vor allem neben der großartigen Videoarbeit von Artur Żmijewski, aber das ist ein anderes Thema…)
Resonanzen von Ausstellung und Stadtraum
Nach diesen Resonanzen mit „meinen“ Systemzonen, gilt der zweite Blick den Räumen. Der Blick schweift von den Objekten in die sie umgebende Umwelt. Ein Blick aufs Ganze.
Die erste Situation, die diese Haltung einfordert, ist die Serie „The Southern Sea, the Return to Itself“ von Edi Hila. Hilas im Albanien der achtziger Jahre entstandenen Aquarelle und Zeichnungen entwerfen den Strand als Ort der Freiheit und Gegenpol zum Leben in einem diktatorischen System und zeigen Bilder von badenden, duschenden, schwimmenden Menschen. Der Athener Stadtraum und die Wohnhäuser gegenüber spiegeln sich in den Vitrinen der Ausstellungsinstallation. Beim Blick auf die gegenüberliegende Fassade des Museums für Zeitgenössische Kunst fällt mir ein Graffiti ins Auge: „Be water again.“ Resonanzblitzschlag.
Ein paar Stockwerke höher präsentieren Annie Vigier und Franck Apertet (les gens d’Uterpan) „Géographie-Athènes“. „Géographie ist eine Partitur für eine Gruppe von Performer_innen. Sie soll innerhalb der räumlichen Beschränkungen des Ortes ausgeführt werden, an dem sie stattfindet. Der Bodenumfang, der durch die Bewegungen der Performer_innen eingenommen wird, bestimmt den Plan für die Bildung einer Struktur. Die An- oder Abwesenheit der Performer_innen innerhalb der Struktur folgt einem Rhythmus, der nicht veröffentlicht wird.“ Der Raum ist leer, als ich ihn betrete. Vom Performanceraum aus sind Akropolis und Parthenon sichtbar. Auf der Hauswand gegenüber des Museums wieder ein Graffiti: „Welcome and enjoy the ruins.“
Das Außen der Ausstellung ist zur Ausstellung selbst in solch bemerkenswerter Resonanz, dass ich kurz die Documenta-Macher verdächtige, die Graffiti selbst angebracht zu haben.
Der Verdacht liegt nahe. An vielen Orten der Stadt ist Resonanz und die Verschränkung von Räumen Konzept. Und damit Suchen, Wahrnehmen, Nicht-Wissen; was ist Documenta, was nicht? Etwa in der Kunstakademie, wo ich durch mehrere Ateliers und studentische Ausstellungen laufe, bevor ich die Räume der Documenta finde. Das In-Resonanz-Treten passiert ebenfalls im Polytechnion. Als ich nach Laszlo Moholy-Nagys Film des Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM4) in die gleißende Athener Sonne trete und am Originalort der Charta von Athen stehe, während die aktuellen Architekturstudenten und -studentinnen aus ihren Vorlesungen kommen. Oder im Athen Konservatorium, wo sich größere Menschengruppen um Installationen versammeln. Beim Nähertreten an die größte Gruppe im obersten Stockwerk dauert es einen Moment, zu verstehen, dass hier Athener Eltern aus der Nachbarschaft ihre Kinder zum Unterricht anmelden.
Es ist keine stumme Weltbeziehung, die das Konzept intendiert, keine “reine” Ästhetik. Resonanz als Programm.
Resonanzen im Blick. „Von Athen lernen“
Es geht mir hier weniger um den „unreinen Blick“ einer anthropologisch populären Ästhetik als vielmehr um die Tatsache, dass die produzierte Indexikalität die zentrale Intention der Kuratoren zu sein scheint. Nicht die singuläre ästhetische Position steht im Vordergrund, sondern Raum, Körper und Beziehung. Es geht um nicht weniger als die Verwandlung der Welt.
Spätestens ab dem zweiten Tag fängt der Rezeptionsmodus an, überzuschlagen und wird zum grundlegenden Wahrnehmungsmodus. Resonanzen tauchen mit Objekten im Stadtraum auf. Am offensichtlichsten bei der Installation von Daniel Knorr und den Müllbergen der Athener „Müllkrise“, verursacht durch den Streik der Müllarbeiter. Aber auch in Anordnungen, die das soeben Gesehene exakt wiederaufnehmen; wie die mit Scherben gefüllten Archivkisten von Lois Weinberger und die mit Scherben gefüllten Kisten als Platzhalter für einen Parkplatz auf dem Nachhauseweg vom Museum; oder Materialien wie Tische aus Resopal, im Draußen und Drinnen. Die Resonanzmaschine arbeitet auf Hochtouren, produziert serielle Indexikalität. Die Stadt als Gesamtkunstwerk.
Diese Indexikalität und Zeichenkommunikation scheinen sich zu übertragen. Der ungeordnete Haufen auf dem Tisch in meinem Hotelzimmer aus von mir gesammelten Steinen aus Aristoteles’ Schule und zweier Objekte aus der Installation von Daniel Knorr, erfährt eine Intervention durch das Zimmermädchen. Sie ordnet die neun Objekte zu einer kreisförmigen Installation. Es ist das erste Mal in meinem Hotelzimmer-Dasein, dass ein Zimmermädchen so vehement sichtbar wird; liegt ihre strukturelle Besonderheit doch in der Spannung aus dem Zugang zum eigenen Dingraum und der Verschleierung dieses Zugangs durch Diskretion. Ihre Zeichen kommunizieren. Hier schließt sich der Kreis. Oder um das Blumenberg Zitat von oben zu vervollständigen: “Die Metapher gibt sowohl den Umriß eines Ganzen von vielen Bedingungen und Möglichkeiten als auch die Grenzwerte des nahezu Unmöglichen, das allen anderen im besten Falle als Seemannsgarn angeboten wird.”
Resonanzdichte. Die “eine” Arbeit
Die Arbeit der Athener Documenta, die das Prinzip der Resonanz und eine Verschränkung mit dem Außen außerhalb des Ausstellungsraums für mich auf ideale Weise verkörpert, ist von Marie Cool und Fabio Balducci im EMST – Museum für zeitgenössische Kunst. In ihrer Präsentation versammeln sie mehrere unbetitelte Arbeiten, jeweils bestehend aus ein oder zwei schlichten Schreibtischen aus Resopal (again!), einigen Blättern Papier, einem Plastiklineal – und Sonnenlicht. Das Athener Licht erzeugt, performt zu bestimmten Zeiten Arbeiten von bestechender Simplizität und Eleganz. Cools und Balduccis Arbeit besticht durch Minimalismus, Wahl der Mittel, ästhetisches Vermögen, Lässigkeit und vor allem durch die Dichte der Bezüge. Ein ephemer werdender Arbeitsalltag, Arbeitsbedingungen, Bürokratie, Staat, die Gesetze des Wahrnehmens und Wartens, das berühmte Athener Licht, Zeitlichkeit, An- und Abwesenheit, der Zauber des Moments.
Wäre Kafka bildender Künstler gewesen, das wäre seine Arbeit.
Nachklang
Später lese ich, die Documenta 14 will ein “Parlament der Körper” bilden, das “nicht nur innerhalb der Ausstellungsräume, sondern auch innerhalb der städtischen Räume (Theater, Vereine, Ateliers, Plätze …), die mit neuen Formen von Souveränität jenseits der Norm experimentieren” agiert. Der künstlerische Leiter der Documenta, Adam Szymczyk, sagt, „die beste Art, sich der Ausstellung zu nähern, ist zu verlernen, was wir glauben zu wissen.” Das kommt dem Blick der Europäischen Ethnologin, die sich berufsmäßig dem Eigenen entfremdet sehr nahe, ebenso wie das Ideal der Verkörperung.
Die Kraft dieser Kunst entsteht durch ihre konkrete Einbindung und Einmischung in die Welt, durch Kollaboration von Räumen, Materialien, Künstlern, Machern, Besuchern, Athenern, Körpern. Doing Ästhetik schlägt die ästhetische Position. Ein Deleuze Satz aus der Arbeit von Rainer Oldendorf klingt nach: „Denn einmal dahin gekommen, ist man zwar allein, aber auch gleichsam eine ‘Bande’ von Saboteuren. Man ist kein Autor mehr, man ist ein Produktionsbüro, man war nie mehr bevölkert.“
Vielleicht gehört der Modus der Resonanz zwangsläufig zu Adam Szymczyks Konzept, „die Macht des Marktes zu brechen”. In der Auswahl der Arbeiten ist es gelungen, im Wahrnehmungsmodus der Besucher auf feine Art perfektioniert. Athen antwortet.
Beitrag entstand im Rahmen des Workshops »Zeitgenössische Kunst und die Geistes- und Sozialwissenschaften: Konfrontation, Dialog und Missverständnis« des Centre Marc Bloch Berlin. Das Centre Marc Bloch richtete anlässlich der documenta 14 eine Reihe von Begegnungen in Berlin, Athen und Kassel aus, die sich dem Dialog zwischen KünstlerInnen und ExpertInnen der Geistes- und Sozialwissenschaften widmeten.