von: http://www.magazin-restkutur.de/hinterruecks-vom-rest-ueberrascht
»Vor wenigen Wochen fand an der Bauhaus-Universität in Weimar eine Fachtagung statt, die unsere Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich gelenkt hat. Unter dem Titel »Müll – Perspektiven des Übrigen« kamen dort am 24. und 25. September diverse Referenten zusammen, um einen Blick auf unterschiedlichste gesellschaftlich-kulturelle Restvorkommen zu werfen. Dabei galt ihr Interesse zwar Abfällen und Resten als umweltrelevante Größen, beschränkte sich aber nicht nur darauf: Dem Übrigen lässt sich schließlich auch medial – und ästhetisch – einiges abgewinnen. Ein Gespräch über Ambivalenzen, Entsorgungs- und Erzählherausforderungen sowie darüber, wer die Drecksarbeit eigentlich machen muss
»Müll ist ein tricky business«, gibt sich Christiane Lewe von der Bauhaus-Universität in Weimar im Gespräch mit diesem Magazin überzeugt. Wir haben mit der Medienwissenschaftlerin über diese und andere Eindrücke, die sie während der medienwissenschaftlichen Fachtagung »Müll – Perspektiven des Übrigen« (24. bis 25. September) gesammelt hat, gesprochen.
Frau Lewe, Sie sind eine der Ideengeberinnen der jüngst abgehaltenen medienwissenschaftlichen Tagung »Müll – Perspektiven des Übrigen« an der Bauhaus-Universität Weimar. Wie kam es dazu?
Ich bin mit meinen Kollegen Tim Othold und Nicolas Oxen zufällig auf das Thema gestoßen. Keiner von uns beschäftigt sich in der eigenen Forschung schwerpunktmäßig mit Müll oder Resten. Aber plötzlich weckten sie unser Interesse. Nicht in erster Linie aus ökologischer Perspektive als Problemsubstanz, sondern eher als Kategorie des Wissens und als produktiver Kategorienstörer. Für Phänomene des Dazwischen interessiert sich die Medienwissenschaft ganz besonders. Uns wurde klar, dass im Grunde jedes Forschungsthema eigentlich auch etwas über Reste zu sagen hätte. Es ist ein unglaublich interdisziplinär anschlussfähiges Feld. Aber genau wie wir selbst das Thema lange gar nicht auf dem Schirm hatten, wird die Frage nach den Resten und dem Übrigen in den Geisteswissenschaften meistens übersehen oder übergangen. Wir hatten Lust, uns diesem blinden Fleck zu stellen.
Wer nahm an der Tagung Teil?
Wir haben NachwuchswissenschaftlerInnen aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen eingeladen, die sich in ihrer Forschung auf irgendeine Art mit dem Übrigen befassen, darunter EthnologInnen, KulturwissenschaftlerInnen, PhilosophInnen, SoziologInnen, ArchitektInnen und MedienwissenschaftlerInnen. Mit der Archäologin Astrid Lindenlauf und der Geografin und Kulturwissenschaftlerin Rosie Cox hatten wir zwei ausgewiesene Expertinnen als Keynote-Speakerinnen zu Gast, die sich schon viele Jahre aus zwei völlig unterschiedlichen Perspektiven mit Müll beschäftigen. Das war eine ganz tolle interdisziplinäre Mischung und hat sehr viel Spaß gemacht.An zwei Tagen hatten wir drei verschiedene Panels mit jeweils 2 – 3 Vorträgen plus Zeit für Nachfragen aus dem Publikum. Im ersten Panel haben wir uns mit Systemen des Mülls beschäftigt. Was definiert Müll eigentlich als Müll? Und kann Müll auch auf Kategorien und Ordnungen zurückwirken und Veränderungen des Systems provozieren? Das zweite Panel handelte von Topographien des Mülls, d.h. vom Müll als Faktor, der Orte und Räume schafft. Das dritte Panel fokussierte auf die Ästhetiken des Mülls und der Frage, welchen Beitrag zum Beispiel Kunst, Film und Literatur zu den Fragen leisten können, die der Müll aufwirft.
Sie sind ja Resten und Abfällen so auch als ästhetische Größen auf den Grund gegangen. Wie genau sieht dies im wissenschaftlich-künstlerischen Diskurs aus?
Ich gebe vielleicht ein Beispiel. Radioaktiver Müll ist für Lebewesen gefährlich und das auf eine Dauer, die an Ewigkeit grenzt. Er erfordert, über irrwitzige Zeiträume nachzudenken. Viele Generationen werden unserer folgen, Kulturen und Sprachen werden sich verändern. Aber der Atommüll wird in seinem Endlager weiterhin gefährlich strahlen. Die Frage ist: Wie kennzeichnen wir den Bunker und die Fässer, sodass auch zukünftige Generationen identifizieren können, was drin ist?Die Literaturwissenschaftlerin Christina Gehrlein hat dieses Problem als literaturwissenschaftliches erörtert. Sie sagt, die Entsorgungsherausforderung ist auch eine Erzählherausforderung, also eine Aufgabe für die Literatur. Schon in den 80ern gab es Überlegungen, Menschen in ferner Zukunft durch Mythen vor den Gefahren des Atommülls zu warnen. Müll motiviert so neue ästhetische Formen. Literaturwissenschaft wird zur Abfallwissenschaft, Müll wird zur ästhetischen Größe.
Der »Great Pacific Garbage Patch« kann somit auch als künstlerische und nicht so sehr als umweltrelevante Herausforderung betrachtet werden. Kann dieser Ansatz auch zu einer Verharmlosung des Problems führen oder ist hingegen dies genau die Lösung?
Müll ist ein tricky business. Wer die endgültige Lösung des Müllproblems gefunden glaubt, wird hinterrücks wieder vom Rest überrascht. Etwas bleibt immer übrig. Der ökologische Fokus auf Müllvermeidung und das Streben nach Restlosigkeit dominiert die Debatte über den Müll, obwohl beides ziemlich aussichtslos ist. Nur wähnt man sich damit immer schon auf der richtigen Seite. Wir sind gar nicht an einer Lösung interessiert, sondern eher an einer Vervielfachung der Perspektiven.Das Kunstprojekt von Pinar Yoldas An Ecosystem of Excess über den »Great Pacific Garbage Patch« eröffnet eine ganz andere Sichtweise, eine Utopie. Was, wenn die Plastiksuppe im Ozean irgendwann zu einem ganz neuen Ökosystem wird, ganz neue ungeahnte Organismen hervorbringt, deren Lebensgrundlage der Plastikmüll ist? Schildkröten mit Plastik-Ballon-Panzern, Organismen, die synthetische Polymere verdauen können – das sind Hybride, die die Unterscheidung von Kultur und Natur überschreiten und damit eine ganz neuen Horizont eröffnen. Harmlos finde ich das nicht. Diese Kunst verkleinert das Problem nicht, sondern setzt es in neue Zusammenhänge.
Welche Projekte oder Denkanstöße strahlen von der Tagung möglicherweise auf Politik und Gesellschaft aus – oder war das gar nicht Ihre Zielsetzung?
Wir haben eine wissenschaftliche Tagung veranstaltet, die auch größtenteils akademisches Publikum angezogen hat. Aber die Trennung zwischen Theorie und Praxis, die Sie mit Ihrer Frage vielleicht andeuten, gibt es in meinen Augen nicht. Wissenschaft ist Teil der Gesellschaft und kann und sollte auch politisch sein. Rosie Cox hat zum Beispiel die wichtige Frage erörtert: Wer muss eigentlich die Drecksarbeit machen? Wie strukturieren Müll und Dreck soziale Hierarchien? Wieso sind es vor allem migrantisierte Frauen, die die schmutzige Arbeit in weißen Haushalten machen müssen und dabei selbst oft wie Dreck behandelt werden? Aber auch alle anderen ReferentInnen leisten ihren Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft, indem sie sich den Resten zuwenden, die in den Geisteswissenschaften sonst oft aktiv ausgeklammert werden.
Meiner Beobachtung nach wohnt dem Rest eine starke Ambivalenz inne.
Sehen Sie das auch so?
Ja, unbedingt! Den Ambivalenzen des Rests sind wir andauernd begegnet. Was für die einen Müll ist, ist für andere Ressource. Reste sind Ergebnis von Ordnungsbemühungen und gleichzeitig Kennzeichen ihres Scheiterns. Müll ist Material am falschen Ort, aber er schafft auch Orte. Wenn man einmal anfängt, über Reste nachzudenken, entdeckt man zahllose Ambivalenzen.Bei der Tagung haben wir gemerkt, dass wir manchmal dazu neigen, uns eigentlich nicht wirklich dem Rest zu stellen. Wir tendieren immer schon zum nächsten Schritt, der Verwertung, der Umdeutung oder Auflösung in etwas anderes. Vielleicht passiert das deshalb, weil der Rest dieses ambivalente Dazwischen ist, das für sich kaum greifbar ist, sondern immer eine Entscheidung für ein entweder oder provoziert. Wobei diese Entscheidung im nächsten Moment schon wieder fragwürdig werden kann.
Welche Projekte oder Beiträge haben Sie persönlich in besonderer Weise beeindruckt?
Die Ethnografin Petra Beck hat uns ihre Studie zu Selfstorage-Houses vorgestellt. Das sind große Lagerhäuser, zum Teil ehemalige Wohnblocks. Dort mieten Menschen Parzellen an, um Dinge einzulagern. Petra Beck nennt sie Restopia – Orte für Dinge. Das hat mich sehr fasziniert. Hier wird die Ambivalenz des Rests besonders deutlich. Geht es hier eigentlich noch um Abfall? Auf der einen Seite ja. Menschen deponieren hier Überschüssiges. Dinge, für die sie keinen Platz, keine Verwendung haben. Dinge, die sie aus ihren Wohnungen, aus ihrem Alltag verbannen wollen. Zeug, das sie nicht mehr brauchen, das entbehrlich geworden ist. Und doch können sie es nicht ganz entsorgen. Es ist doch irgendwie unentbehrlich, manchmal ideell oder materiell überaus wertvoll. Diese überschüssigen und übrigen Dinge changieren zwischen Schatz und Gerümpel. Sie bekommen für dieses Zwischenstadium sogar einen eigenen Ort.
Hat sich Ihr Blick auf Reste und Müll durch die Tagung verändert?
Ja, ich denke schon. Ich habe meinen Blick für die Reste geschärft, die immer und überall anfallen. Zum Beispiel in meiner eigenen Wissenschaftspraxis: Jedes Forschungsunternehmen produziert Reste und Abfälle. Skizzen, Notizen, verworfene Entwürfe füllen den virtuellen und den physischen Papierkorb, Widersprüche und Misfits fordern meine Begriffe und Kategorien heraus. Wenn Wissenschaft eine Ordnungs- und Reinigungsaufgabe ist, dann wird auch sie immer wieder von ihren Resten heimgesucht. Es ist wichtig, diese Reste in den Blick zu nehmen und nicht zu verleugnen. Sie können ja unglaublich produktiv sein.
Zum Schluss, Frau Lewe:
Ist eine Wiederholung oder Dokumentation der Veranstaltung geplant?
Eine Wiederholung der Konferenz ist vorerst nicht geplant, wohl aber eine „Fortsetzung“ in Form eines Tagungsbandes, der bei transcript erscheinen wird.
Wir danken Christiane Lewe für das Gespräch.«