von: Florian Felix Weyh
70 Jahre Grundgesetz
»Eigentum verpflichtet!
Wohnungsunternehmen, Autokonzerne, Tech-Giganten – lange wurde nicht mehr so kontrovers über Besitz und Verantwortung gestritten wie aktuell. Wir haben mit Juristen, Forscherinnen und Wirtschaftsexperten über Eigentum und Enteignung gesprochen.

„Eigentum  verpflichtet“, dass es dieser maximal kurze Satz ins Grundgesetz  schaffte, ist Hugo Sinzheimer zu verdanken. Als bedeutender Jurist und  wichtiges SPD-Mitglied war er die treibende Kraft dahinter, dass die  Idee als § 153 in der Weimarer Verfassung von 1919 fixiert wurde. Durch  seinen Schüler Carlo Schmitt ging dieser Absatz auch ins Grundgesetz  über, als Artikel 14 (2): „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll  zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Was hieß das damals?
Was konkret damit gemeint war, damit hat sich Abraham de Wolf beschäftigt. Der Fabrikherr wurde damit, so der Rechtsanwalt, in einer Zeit, als die Wirtschaftsordnung der neuen Bundesrepublik zur Diskussion stand, zu einer grundlegenden Verantwortung für all die, die in seiner Fabrik arbeiten, verpflichtet.
„Deshalb ist es voll in seiner Logik,  dass ich das Eigentum zwar gewährleiste – also er war nicht für den  Kommunismus, er war Sozialdemokrat, aber es gibt eine Verantwortung! Und  diese Verantwortungsethik, die ist zum einen jüdisch, zum anderen  Neukantianismus. Und das ist auch die Möglichkeit, wie ich letzten Endes  eine soziale Marktwirtschaft hinbekomme.“
Eigentum  verpflichtet! Sollen IT-Giganten also ihre Datensätze allen zur  Verfügung stellen? Müssen Privatgärten für öffentliche Picknicks  geöffnet werden? Darf man jeden PKW mit freien Sitzplätzen wie ein Taxi  heranwinken? Oder hat jeder Anspruch auf kostenlosen Miturlaub auf  Yachten der Superreichen? 
Nach Meinung von Lisa Herzog, Professorin für Politikwissenschaft an der TU München, sollte es diese Yachten der Superreichen überhaupt nicht geben. „Das ist das Problem. Dann würde sich die Frage nicht stellen.“
„Wer kommt denn auf so ne Idee?“, kontert Tom Koenigs, Ex-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Kämmerer der Stadt Frankfurt. „Wenn man nun die Aida-Kreuzfahrerinnen und Kreuzfahrer alle auf die Yachten der Reichen in Nizza verteilen würde… es wär interessant!“
Petra Beck, Anthropologin, sieht wiederum ein ganz praktisches Problem: „Wie kommen die Leute auf diese Yacht? Wie wird das organisiert? Ich sehe ein gewisses Problempotenzial!“
Besitz und Verantwortung
Im 
Bürgerlichen Gesetzbuch steht: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit
 nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach
 Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.“ 
Soll man welke Salatköpfe in Supermärkten demnach verschenken?
„Sie können verschenkt werden, wenn jemand damit satt wird, klar“, sagt Tom Koenigs. „Warum sollen sie zerstört werden? Ich finde auch solche Bewegungen, die versuchen, das auch ein bisschen jenseits der gängigen Legalität zu organisieren, vernünftig! Da gibt es viele, viele Formen von Sozialisierung, die ich durchaus gut finde.“
Aber warum sollten z.B. arme Leute schlechten Salat essen müssen, fragt Abraham de Wolf?
Wie  jedem Juristen ist de Wolf der Unterschied zwischen Eigentum und Besitz  in Fleisch und Blut übergegangen. Kurzfristig, im Alltag, scheint der  Besitz das Wichtige, langfristig, im Leben, das Eigentum. Ein „stolzer  Besitzer“ von irgendwas zu werden, macht nicht frei, nur Eigentum tut  das. In einem Gasthof, wo der Wirt Eigentümer des Stuhles bleibt, mögen  sich im Laufe eines Tages viele Besitzer, Besatzer, Besetzer den Stuhl  aneignen – dies bleibt die Herrschaft des Moments, eine  Zugriffsmöglichkeit ohne anhaltende Folgen.
Aphoristiker Peter Glaser dichtet passend dazu:
Kunst: Jedem das Meine.
Politik: Jedem das Unsere. 
Wirtschaft: Mir das Deine.
Wohneigentum – eine kontroverse Gesellschaftsfrage
Ein Eigentümer hat, kann, darf – der Nichteigentümer bittet, bettelt, zahlt. Diesen Umstand hat der Schweizer Rechtswissenschaftler Peter Noll einst die „exakte Definition des nihilistischen Eigentums“ gescholten und erklärte dazu:
„Ich kann eine Villa am Zürichsee, 
eine in der Toscana, eine weitere in Kalifornien usw. haben, daneben 
noch viele leerstehende Häuser in manchen Städten; ich benütze keine 
der Villen oder keines der Häuser. (…) Ich habe nichts davon, aber ich 
kann wenigstens allen anderen verbieten, etwas davon zu haben.“
Da
 drängt sich in Zeiten von steigenden Mieten und zunehmender Verdrängung
 die Frage auf: Darf man Wohnungsunternehmen enteignen?
Tom Koenigs findet es zumindest richtig, über die „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ nachzudenken.
Der Informatiker Christoph Meinel sieht hingegen keine Notwendigkeit, an „irgendwelchen Eigentumsrechten etwas zu ändern“. Dadurch gebe es keine Entlastung des Wohnungsmarktes, die aber dringend erforderlich sei, um ein tiefes, gesellschaftliches Problem zu lösen.
Autokonzerne und Facebook enteignen?
Artikel 14 GG stimuliert die Fantasie wie kein anderer Verfassungsgrundsatz. Welches Unternehmen würden unsere Gesprächspartnerinnen und Partner also enteignen – wenn sie dürften?
Petra Beck kommt als erstes Facebook in den Sinn. „Alle Autokonzerne?“ Lisa Herzog ist davon nicht überzeigt. 
Ein
 Unternehmen, das ganz offensichtlich ethischen Mindeststandards nicht 
entspreche, da könnte man über ein Enteignung nachdenken, meint 
Betriebswirt Viktor Weber.
Eigentum bedeutet: „Ich bin mit verantwortlich für andere“
Wenn Besitz und Kontrolle über ein Eigentum in den Händen von vielen liegen, ist es allerdings schwierig, seiner Verpflichtung im Sinne des Grundgesetzes nachzukommen, sagt Lisa Herzog.
„Das ist so’n typisches Problem kollektiven Handelns! Es ist sehr schwer zu sagen: ‚Jeder einzelne Aktionär solle das tun!‘ Aber wenn’s eben niemand macht, dann gibt’s Verantwortungsdiffusion.“
Diese Diffusion lässt sich 
auch aus einer anderen Perspektive beleuchten, einer, die nicht nur den 
eher exklusiven Kreis von Aktienbesitzern betrifft. Hauptsächlich üben 
wir alle unsere Eigentümerrolle aus, wenn wie konsumieren.
„´Eigentum
 verpflichtet` hat ja als Kern eine Ethik drin“, sagt Abraham de Wolf. 
„Nämlich: Ich bin mit verantwortlich für andere! Und deshalb kann ich 
sagen: In der Globalisierung muss ich den Weg finden, als Käufer zu 
sagen: ´Wenn du eine Fabrik für Textilien hast, dann hast du folgende 
Kriterien zu befolgen!` Das ist also das, worum es jetzt geht!“
(jde)
Autor: Florian Felix Weyh
Regie: Clarisse Cossais
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Martin Hartwig
Nachzuhören in der Mediathek unter:
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2019/05/21/70_jahre_grundgesetz_eigentum_verpflichtet_feature_drk_20190521_1930_71f5dd84.mp3
