Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Die Mutter aller Zensuren«

von: Moukhtar Bachi

»Schöpferin, Lebensspenderin – seit jeher
ist die Mutter Gegenstand der Kunst. Sei es in der
positiven Form der Madonna, fromm und liebend,
oder negativ konnotiert als Medea, rachsüchtig mordend.

Auch Oliver Augsts und Marcel Daemgens M#TTER schenkt der Mutterschaft im Frankfurter Gallus Theater Beachtung, wenn
auch einer bislang eher unbeleuchteten Randgruppe: den Künstlermüttern. Mit dem
Hinweis Keine Chronologie bereitet die Produktion von textXTND auf die
sprunghafte Inszenierung des Themas vor. Das Resultat ist ein auf musikalischer
und textueller Ebene erzeugtes Wechselspiel. Mal ertönen imposante
Swing-Einlagen von Augst zu Kompositionen von Peer Raben und Dichtungen von
Hans Magnus Enzensberger oder Wolf Wondratschek, die jeweils eigene Bezüge
zum Muttermotiv haben. Instrumental unterstützt wird das durch die Arrangements
von Eckart Rahn, der Rabens Musik für die Big Band des Marburg Jazz Orchestras
übersetzt hat.
Demgegenüber stehen emotionale Vorträge einer Künstlermutter an das Publikum,
unter Zuhilfenahme der Worte von Petra Beck und Brezel Göring, die den
Leidenskonflikt mal in Monologform, mal im Zwiegespräch mit dem geplagten Sohn
zeichnen. So legt die Mutter, empathisch-makaber gespielt von Pascale Schiller,
dem Publikum ihre Beziehung zum berühmten und talentierten Kind, leidend
dargestellt von Göring, in Form kurzer Psychogramme offen.
Wessen Mutter genau, bleibt unausgesprochen. Zu Beginn macht das ein humorvoll
interpretiertes Unterlassungsschreiben der Anwälte des Künstlers deutlich. Ein
sporadisch aufklingender Zensurton, visuell dargestellt durch ein aufleuchtendes
Rautenzeichen, erinnert mehrfach daran. Das Ensemble verpackt das
Namensverbot auf spielerisch amüsante Art und setzt so den Grundton des Stücks.
Ertönt der schrille Zensurton, fahren die Zuschauer aus ihrer Immersion auf, der
Fokus geht unerbittlich zurück auf die davon irritierte Mutter, Dreh- und Angelpunkt
des Abends. Den Künstler, dessen Name nicht genannt werden darf, dürften Kenner
im Publikum schnell enttarnen – die Produktion gibt durch Lieder und Texte
zumindest ein wenig Aufschluss. Aber auch wenn man die Figur nicht erkennt, wird
die Mutter im Stück von der Last der Bekanntheit ihres Sohnes doch entbunden. So
entsteht eine Art Archetyp, der bei allen Zuschauern Anklang finden kann.«
Quelle: https://zeitung.faz.net/faz/rm-kultur/2022-06-23/b6cf2d299696d4c07603f0ba1095c8e
8/?GEPC=s5
(erschienen online und im Print)