von: David-Christopher Assmann/
Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik
Der von Christiane Lewe, Tim Othold und Nicolas Oxen herausgegebene Band Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene eröffnet in Schlaglichtern Zugänge zu ‚übrig-gebliebener‘ Materialität in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Ausgehend von der Annahme, bei nicht mehr gebrauchten Dingen handele es sich um das Ergebnis sozio-kultureller Zuschreibungsprozesse, interessieren sich die Beiträge für so unterschiedliche Phänomene wie die Inszenierung von Müll im Fernsehen, Gender und Schmutz, Gebäuderecycling, Self-Storage oder künstlerische Auseinandersetzungen mit Müll. Als gemeinsamer Schnittpunkt der Fallstudien stellt sich dabei das Vorhaben heraus, den als konventionell unterstellten Abwertungen des Übrig-Gebliebenen entgegenzuarbeiten. Eine literaturwissenschaftliche Perspektive fehlt hingegen.
Eine Rezension von David-Christopher Assmann (dc.assmann@em.uni-frankfurt.de)
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Università di Torino
Lewe, Christiane; Othold, Tim und Nicolas Oxen (Hg.): Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene. Bielefeld: Transcript, 2016. 254 Seiten, 29,99 EUR. ISBN: 978-3-8376-3327-6.
Abstract
Der von Christiane Lewe, Tim Othold und Nicolas Oxen herausgegebene Band Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene eröffnet in Schlaglichtern Zugänge zu ‚übrig-gebliebener‘ Materialität in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Ausgehend von der Annahme, bei nicht mehr gebrauchten Dingen handele es sich um das Ergebnis sozio-kultureller Zuschreibungsprozesse, interessieren sich die Beiträge für so unterschiedliche Phänomene wie die Inszenierung von Müll im Fernsehen, Gender und Schmutz, Gebäuderecycling, Self-Storage oder künstlerische Auseinandersetzungen mit Müll. Als gemeinsamer Schnittpunkt der Fallstudien stellt sich dabei das Vorhaben heraus, den als konventionell unterstellten Abwertungen des Übrig-Gebliebenen entgegenzuarbeiten. Eine literaturwissenschaftliche Perspektive fehlt hingegen.
Rezension
Im Müll findet sich allerhand Heterogenes, in Sammelbänden auch. Die interdisziplinären Perspektiven des von Christiane Lewe, Tim Othold und Nicolas Oxen herausgegebenen Bandes legitimieren sich also gewissermaßen selbst. Einordnen lässt sich der Band in jenen lockeren Zusammenschluss von Forschungsinteressen, der sich bereits seit einiger Zeit und verstärkt im anglo-amerikanischen Bereich das Label ,Waste‘ oder ,Discard Studies‘ auf die Fahne geschrieben hat. Während dessen Forschungsprogramm indes auch naturwissenschaftliche, ingenieurswissenschaftliche etc. Ansätze zu integrieren beansprucht, meint ,interdisziplinär‘ im vorliegenden Fall: kulturwissenschaftlich. Die insgesamt acht deutschen und englischen Beiträge, die auf eine Weimarer Tagung im September 2015 zurückgehen, entstammen der Anthropologie, Ethnographie, den Gender Studies, der Soziologie, der Medienphilosophie und der Architektur. Strukturiert sind sie in vier ebenso hilfreiche wie kontingente Abteilungen: „Bedingungen“, „In Gesellschaft mit dem Übrigen“, „Ästhetische Dynamiken des Übrigen“ sowie „Praktiken des Ent-, Ver- und Wegwerfens“.
Ihr gemeinsames theoretisch-konzeptionelles Dach finden die Sektionen im Interesse für das ,Übrig- Gebliebene‘. Folgt man der Einleitung der HerausgeberInnen, bezeichnet diese ins Bindestrich- Kompositum gekippte Substantivierung im Anschluss an Michael Thompsons Rubbish Theory einen „Zwischenzustand“ (S. 10) des Materiellen, der sowohl mit „wechselnden Wertzuschreibungen“ (S. 11) verbunden ist als auch „eigene Raum- und Zeitdynamiken“ (S. 11) entfaltet. Der Vorteil dieser Begriffsprägung liegt auf der Hand: Zum einen geht sie der leidlichen Differenzierung zwischen Abfall und Müll, waste, rubbish und garbage etc. vorerst aus dem Weg (der Beitrag von Franziska Reichenbecher bemüht sich diesbezüglich dann um Ordnung). Zum anderen lässt sich mit der Semantik des Übrigen betonen, dass die Frage, ob ein Ding ,Müll‘ ist oder nicht, keineswegs unter Verweis auf dessen intrinsische Qualitäten beantwortet werden kann. Das Übrig-Gebliebene ist vielmehr das relationale ,Ergebnis‘ eines stets „unabgeschlossen[en]“ (S. 17) Zuschreibungsprozesses, verdankt sich also einer „stetige[n] Verhandlung und Aktualisierung“ (S. 17).
Mit dieser plausiblen Hypothese setzt das kulturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse ein. Dabei versteht es der Band trotz seines begrenzten Umfangs, seinen Gegenstand in unterschiedlichen Facetten zu präsentieren. So reicht das Spektrum der Beiträge von der Inszenierung von Müll im Fernsehen (Thomas Weitz) über den Konnex von „Gender, Race and Dirty Work at Home“ (so der Untertitel des Artikels von Rosie Cox) und der „Ideengeschichte des Gebäuderecycling“ ( Johannes Warda) bis hin zum Phänomen des Self-Storage. Letzteres, also die Anmietung von Parzellen zur Einlagerung privater Dinge, untersucht Petra Beck aufschlussreich als „an interaction of material culture, architectual form, shared knowledge and social space“ (S. 135), um mitunter „a quite poetic and incredibly meaningful usage“ (S. 126) zu beobachten.
Auf klassischem Feld bewegt sich demgegenüber Claudia Tittel. Ihr Beitrag „Szenarien des Mülls“ unternimmt eher kursorisch anmutende Probebohrungen im Bereich der künstlerischen Auseinandersetzung mit materiell ‚Übrig-Gebliebenem‘ im 20. Jahrhundert: angesprochen werden Installationen u.a. von Frank Stella, John Chamberlain, Andy Warhol und Kurt Schwitters. Dabei schreibt Tittel Müll wiederholt und mit großer Selbstverständlichkeit eine besondere Qualität zu – die Rede ist vom Müll als „authentische[m]“ (S. 184), ja „unverfälscht[em]“ (S. 184) Informationsträger –, was durchaus symptomatisch für den Band insgesamt ist. Wenn die HerausgeberInnen nämlich einleitend betonen, keine „analytische Aufräumarbeit“ (S. 11) leisten zu können oder zu wollen, sondern „das Übrige in seiner produktiven Unbeständigkeit“ (S. 15) ernst zu nehmen, so ist dies Ausdruck einer Infizierung des Bandes durch seinen Gegenstand. Den als konventionell unterstellten Abwertungen des Mülls soll entgegengearbeitet, der konstatierte „Schwebezustand“ (S. 22) aufgehoben werden: Das Übrig-Gebliebene sei der „Stoff aus dem sich Unerwartetes ergibt“ (S. 22); das „transgressive Potential des Übrigen“ (S. 21) soll hervorgehoben werden. Diesem unter der Hand sich einschleichenden, nicht eigens reflektierten Aufwertungsgestus entgegenzuarbeiten und ihn auf seine textuellen wie kulturellen Verfahren zu befragen, könnte die Aufgabe einer (im Band keinen Platz findenden) Literaturwissenschaft des Mülls sein.
English Abstract
Cultural Studies Perspectives on Remains
The volume Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene, edited by Christiane Lewe, Tim Othold, and Nicolas Oxen discusses things-that-remain from a cultural perspective. Assuming that material remains are the result of socio-cultural attributions, the contributions focus on phenomena such as representations of garbage on television, gender and dirt, building recycling, self-storage, and artistic negotiations of rubbish. Serving as a common intersection of the case studies, it turns out that the volume tries to counteract the devaluations of remains as they are conventionally attributed. However, the perspective of literary study is found to be absent.
https://journals.ub.uni-giessen.de/kult-online/article/view/160/191
https://journals.ub.uni-giessen.de/kult-online/article/view/160