von: Hans-Jürgen Linke
»›M#tter‹ im Frankfurter Gallus Theater ist natürlich auch ein Musical über Söhne
Guten Abend, gute Nacht. Oliver Augst singt das, als Crooner kostümiert, mit
wohltönendem Bariton und selbstredend auf Englisch. Es klingt nicht im geringsten
nach Brahms, denn es ist ein Lied von Peer Raben, das in dem alten Film ›Warnung
vor einer heiligen Nutte‹ erklingt. Das Marburgjazzorchestra, geleitet von Christoph
Klenner, macht daraus im Frankfurter Gallus Theater ein fettes Stück
Show-Bühnen-Musik.Aber von Anfang an ist klar, dass es nicht in erster Linie um den Crooner und die
Show geht. Dazu treiben sich zu viele verkleidete Leute auf der Bühne herum. Sogar
Marcel Daemgen, der die Musik arrangiert hat und vor seiner Elektronik an der
linken Bühnenseite sitzt, trägt eine güldene Perücke. Brezel Göring in nachlässigem
Transen-Habit mit türkisfarbenem Haar nölt seinen Part mit genervtem Unterton.
Sie liebt ihn bedingungslos. Es geht um Mütter, genauer: um die Gattung der
Künstlermutter, die ihren Sohn nicht versteht, aber bedingungslos liebt und nach
seinem viel zu frühen Tod zum Beispiel eine Foundation gründet, um (auch noch)
sein Nachleben zu kontrollieren. Die betont unangemessen kostümierte Mutter wird
mit ironischer Präsenz von Pascale Schiller verkörpert, gesprochen, getanzt.
Nein, der zugespitzte Mythos von Ödipus ist hier nicht das Thema und ein Vater weit
und breit nicht zu erkennen. Väter braucht keiner, überhaupt: Männer! Als
erwachsene Mitmenschen Versager, als Söhne von allen Seiten bedroht. Wie
verloren und bedroht (und natürlich von einem Mann bedroht) so ein Sohn ist,
darüber hat schon Christian Friedrich Hebbel das Gedicht ›Der Heideknabe‹
geschrieben. Gegen diese Ballade ist die beschönigte Vergewaltigungsdarstellung in
Goethes ›Heideröslein‹ eine Gutenachtgeschichte. Die Vertonung, die Oliver Augst
croont, ist von Peer Raben.
Die von Autor:innen und Regie (Petra Beck, Brezel Göring) gewählte
Gattungsbezeichnung ist ›Musical‹. Es gibt darin keine Held:innen und keinen
stringenten Handlungsverlauf. Es ist so gebaut, dass es sich nachträglich im
nachlauschenden, nachsinnenden Publikum eventuell zu einem Musical oder
vielleicht auch einer Crooner-Operette zusammensetzen kann. Davor besteht es aus
Liedern, viele von Peer Raben, mit Texten von Wolf Wondratschek, Hans Magnus
Enzensberger, Rainer Werner Fassbinder, Christian Friedrich Hebbel und David
Ambach, was ein Pseudonym von Peer Raben sein könnte.
Das alles bildet weniger eine Geschichte als vielmehr eine Materialsammlung, aus
der eine Reaktionsmasse entstehen kann. Denn natürlich geht es um Reaktionen,
und Reaktionen sind auch Beziehungen. Mütter und Söhne bilden eine unauslotbare
künstlerische Reaktions- und Beziehungsmasse, diffus und brisant.
Und Ruhe gibt es für sie nicht. Sie kommt nicht zur Ruhe, auch nicht, wenn schon
alles zu Ende ist und nur noch jemand an der Laterne vor dem großen Tor wartet,
dass jemand wiederkommt, ›aus dem stillen Raume, aus der Erde Grund‹, wie einst
Lili Marleen. Oliver Augst intoniert Hans Leips ewiges Soldaten- und Nachkriegslied
zum verfremdeten und völlig unsentimentalen Arrangement: ›So woll’n wir uns da
wiederseh’n‹.«
Gallus Theater, Frankfurt: 18. Juni. www.gallustheater.de
Quelle: https://www.fr.de/kultur/theater/verloren-bedroht-und-behuetet-91616380.html
(erschienen online und im Print)